Essay
von Werner Haftmann

(Geschrieben zu der von ihm 1949 herausgegebenen Mappe mit neun Radierungen von Eugen Batz aus dem Jahr 1932; abgedruckt auch in: Eugen Batz. Radierungen, Stahlätzungen und Prägungen 1924 - 1963, hrsg. v. Freundeskreis, unter Mitarbeit der Galerie Döbele Ravensburg, Oberhausen o.J., S.5-8.)

In dieser Mappe wird von nicht Geringerem als von einer Entdeckung berichtet. Die vorgelegten graphischen Blätter des rheinischen Malers Eugen Batz (geb. 1905 in Velbert/Rhld.) sind bereits 1932 entstanden; sie wurden jetzt erst aufgespürt, als eine in den Jahren 1946/47 entstandenen Reihe seiner Radierungen, die in einer folgenden Mappe einem weiteren Kreis von Graphikfreunden zugänglich gemacht werden wird, anläßlich einer Ausstellung in der Galerie Dr. Rusche in Köln 1947 die freudige Aufmerksamkeit des Verfassers erregte. Der Fund war auch deshalb so erregend, weil das deutliche graphische Vakuum in der deutschen Kunst seit ca. 1930, für das das politisch erzwungene Absinken der modernen Kunst in den Untergrund des kulturellen Lebens nur eine sehr äußerliche Erklärung bietet, sich nun zu einem Teil aufzufüllen beginnt. Gewiß, - die geniale graphische Schaffenskraft E. L. Kirchners hatte sich auch im 4. Jahrzehnt unseres Jahrhunderts bewährt und eine Höhenlage erreicht, die zu entdecken und bekannt zu machen ein dringendes Anliegen ist, - Beckmann, Klee und Baumeister hatten immer wieder einzelne Blätter beigesteuert, Marcks die seine Bildhauereien begleitende Serie der Holzschnitte fortgesetzt und Matarés spielend grübelnde Geistigkeit begann bereits im Holzschnitt das Mittel zu finden, das, seit 1945 in volle Freiheit gesetzt, ihn zu seinen großartigen graphischen Leistungen heute befähigt. Und doch - im Gesamtbild der Kunst verlieren sich die graphischen Leistungen. Das gilt besonders für die Radierung. Die hier vorgelegten Blätter - geätzte Radierungen mit Aquatinta - stehen in der Kunst des 4. Jahrzehnts ziemlich allein da. Dieser ihr origineller Wert würde nicht eben viel besagen, wenn nicht die künstlerische Qualität dieser Blätter und ihr geistiges Anliegen ihnen eine besondere Wichtigkeit geben würde.

Beschäftigung mit Graphik ist immer Sache einer abstrakten Verliebtheit. In der stillen, schauenden, liebevollen Betrachtung erst wird das graphische Blatt lebendig. Man muß warten können, bis das Blatt von selbst zu sprechen beginnt. Es wird seine Erzählung beginnen mit dem seltsamen Glanz seiner Oberfläche, wird uns der geheimnisvollen Legende seiner graphischen Zeichen nachsinnen machen, wird schließlich im harmonischen Entfalten seiner tonigen Formen uns das ästhetische Vergnügen gewähren, das uns jedes in einem inneren Gleichgewicht ruhende Formenensemble - auch in Natur und Kosmos - gibt. Aber es gehört zur inneren Qualität von wirklichen Kunstwerken, daß sie nicht nur ein ästhetisches Vergnügen gewähren, sondern eine geistige Anschauung zu vertreten wissen, d. h. eine künstlerische Methode zur Bewältigung der Welt.
In dieser Mappe liegt ein kostbares Blatt; es trägt den Titel „Herbst“. Man kann ein solches Blatt wohl kaum anders bezeichnen, denn als lyrisches Gedicht der reinen Sichtbarkeit. Zugrunde liegt offenbar nichts als ein drängendes lyrisches Gefühl um den Wortklang „Herbst“, zu dem sich dann im bildnerischen Spiel Wortzeichen formen, Zeichen, die keinen eigentlich gegenständlichen Inhalt meinen. Diese Zeichen sagen wohl Baum oder Wald oder fallendes Laub, aber meinen es nicht gegenständlich. Sie sinnen dem silbernen, ungegenständlichen Getön des Wortklanges nach und finden im Klang eine ferne, melodische Erinnerung auch an die gegenständliche Welt. Denn das Bildnerische ist eine Angelegenheit der durch die Erlebnisse des Auges ausgefüllten inneren Vorstellung. Will sich nun eine lyrische Ergriffenheit bildnerisch ausdrücken, so wird sie dies in sinnlich erfahrenen Zeichen tun; im sinnenden Spiel mit den Formen finden sich die gegenständlichen Erinnerungen wie von selbst ein, sie tauchen herauf wie reine, abstrakte Formen, verhüllen sich auch sofort wieder in der Hermetik der reinen graphischen Zeichen und entlassen schließlich aus sich ein großes Schriftzeichen, - diese sehnsuchtsvolle Kurvatur eines Herzens. So entsteht ein hermetisch verhülltes bildnerisches Gleichnis - ein „imago“ - für das, was in unserer Seele bewegt, wenn uns in der dunklen Stille der lyrischen Stunde das Wort Herbst zufliegt, - nicht dieser oder jener Herbst mit diesen oder jenen Erinnerungen, sondern der allgemein dichterische Klang, der in diesem Wort enthalten ist, der wohl ganz anonym im ganzen menschlichen Geschlecht angelegt sein muß und der hier nur in der Variante der modernen Sensibilität erscheint. Es ist das die gleiche Sensibilität, die Mallarmé erstrebte und die heute ihre wundervolle Blüte im Werk des italienischen Dichters Montale - in seiner „poesia ermetica“ - findet. Das überindividuelle Dichten! Liegt nicht auf diesem Blatt der sanfte Widerschein des fernen Ostens? - So wie die Chinesen einst zu dichten wußten - Worte, einzelne Bildklänge als Gesamtsymbol eines menschlichen Gefühls - wie der Gesang desjungen Kaisers Wu-ti (157-87) auf den Herbstwind:

Weht jetzt der Herbstwind und treiben
weißziehende Wolken.
Gilbt das Gras und das Laub, streichen
die Enten nach Süden.
Orchideen in reifer Pracht ihrer Blüte,
duftende Chrysanthemen.
Denke ich an mein süßes Lieb
und kann’s nicht vergessen.

Treibt quer über den Fluß Fen
die schwimmende Pagode:
In der Mitte des Stromes kräuselt sich
weißer Schaum. Flöte und Trommel geleiten das Singen
der rudernden Knechte.
Aber zwischen Fest und Gesang
weint mein so trauriges Herz.

Aber wie arm im Klang ist meine Übersetzung, - nur das Gestänge der schweren, vielsilbrigen Worte ohne das silberne Klingeln der einsilbigen chinesischen Vokalität zwischen Wort und Wort! Darauf aber käme es auch bei unserem Blatt an: — zwischen dem durchschimmernden Gestänge der gegenständlich-erinnerten Zeichen das Klingen der Empfindung zu spüren, die, wie ungeboren, zwischen den abstrakten Formen und der leisen, gegenständlichen Erinnerung an die herbstliche Landschaft schwebt. Und welch stilles Glück, wenn wir in staunender Gewöhnung des Auges langsam durch das sanfte Klingen der abstrakten graphischen Bewegung hindurchsehen bis zu jenem Gegenständlichen der herbstlichen Landschaft und nun im erregten Glück des Wiedererkennens der lyrischen Empfindung ganz gegenständlich innewerden, die dieses graphische Spiel erst ausgelöst hat, - der überindividuellen Empfindung HERBST also innewerden. Etwas in uns sträubt sich, diese Kunst „abstrakt“ zu nennen und sie damit einzuordnen in eine moderne Malmethode. Sie ist nicht „abstrakt“, sie ist hermetisch. Sie verhüllt in selbständigen, reinen, bildnerischen Zeichen ein immer wieder zu erfühlendes, zu gebärendes lyrisch-gegenständliches Erlebnis des Menschen. Es ist dies das Geheimnis dieser hermetischen Kunst, daß sie das Ungeborene unserer gegenständlichen Empfindung mit bildnerischen Mitteln anschaubar und mit dichterischen Mitteln erlebbar macht, uns nicht nur sehen, sondern sehend fühlen lehrt. Sie findet für die lyrisch-gegenständliche Ergriffenheit ein bildnerisches Siegel, hinter dem die Welt und das lyrisch-allgemeine Weltgefühl des Menschen verwahrt liegt, bis unsere gleichgestimmte Sensibilität für uns das Siegel löst. Dies mag man auch im Blatte „Wasserpflanzen“, auch in den so andersartigen Blättern „Torso“, „Maske“ nacherleben.

Gerade vermöge ihrer hermetischen Doppeldeutigkeit können diese graphischen Zeichen eine außerordentlich realistische Aussagekraft gewinnen. Das Blatt „Ruine“ ist das Bild eines bestimmten, niedergebrannten Hauses, die aus zerfressenem, fleckigem Gewände, aus sinnlosen Arabesken ausgeglühter Träger und Gestänge, aus dumpfen Müll der Schutthaufen lebendig werden und aus dem ruinösen Ensemble seltsamer graphischer Figurationen ein eindringliches, übernahes Bild in der Vorstellung des Künstlers wachrufen. In Künstlern geschieht so etwas: Piero di Cosimo erfand sich seltsame Bilder aus den fleckigen, bespuckten Wänden italienischer Tavernen, Lionardo aus den Figurationen treibender Wolken. Das Bild wird gespenstisch übernah. Auf dem hellen Plattengrund hocken die verfließenden Flecken der Aquatinta wie melancholische Lebewesen, und der fressende Strich der geätzten Linien legt ein brüchiges Gerüst durch die hellen Pläne. Zu nah wird alles, zu wirklich, wie im Traum, als sei dies die Szenerie, auf die sogleich das magische Geknäuel Kafkascher Figuren springen würde und so tun würde, als sei alles in Ordnung. Ein programmatischer Surrealismus, der nur mit der spezifisch modernen Sensibilität sieht und dem im fühlenden Sehen aus Dingen Gestaltformen werden, die die Existenz dieser Dinge für uns wirklicher machen, weil sie in unsere eigene lyrische Empfindung eintreten und so in uns heimisch werden.

Einen tiefen Einblick in das Werden der Bildgestalt gewinnen wir, wenn wir in stiller, wartender Betrachtung das Blatt „Nächtliche Insel“ wirklich schauend erleben, In diesem Blatt geht die bildnerische Phantasie von einem unmittelbaren optischen Erlebnis aus, von einem „Motiv“. Auf einer Reise nach der Insel Rügen (1932) zeichnete und radierte der Künstler eine weite, einsame Bucht, die der berühmte Kreidefelsen abschließt. Diese Blätter sind uns erhalten. Wir können nun mit ihrer Hilfe die Elemente dieser bestimmten Landschaft deutlich in der „Nächtlichen Insel“ wiederfinden: die weite Bucht mit den beiden Schiffen, im Vordergrund der dünne, wehende Baum, im Hintergrund die Steilküste. Aber aus der steilen Weiße des Kreidefelsens ist schon eine selbständige Form geworden, die wie eine schimmernde Lampe im Dunkel des meerumspülten nächtlichen Eilandes hängt. Und so gerät alles in die Trift der dichterischen, formerfindenden Erinnerung, werden die Formen selbständig und lebendig, kristallisieren sich zu einer eigenen Formgestalt, die in einfachen Zeichen die Ergriffenheit des bildnerischen Erlebnisses in sich sammelt: die kleine Insel in der Ewigkeit des Meeres im dunklen Samt der Nacht, träumende Schiffchen auf der stillen Bucht und der Nachtwind melancholisch in Gestalt des dürren Bäumchens und der leuchtenden Form des Felsens. Aber es ist nicht diese Gegenständlichkeit, die uns ergreift, die liegt verschlüsselt in Ton und Form. Es ist der bildgewordenen Kristall des Formgefüges, der uns in reinen bildnerischen Formen dichterische Gegenständlichkeit in seiner Tiefe hermetisch wiederspiegelt: Kristallgebilde zauberischer Kontemplation. Was hier entstanden ist, läßt sich mit einem wundervollen Begriff Goethes umschreiben; entstanden ist ein antwortendes Gegenbild der inneren bildnerisch Vorstellung auf eine ursprüngliche Ergriffenheit des Auges. In der inneren, träumenden Vorstellung entstand aus den Elementen der Wirklichkeit, aus dem „Motiv“, in der formbildenden Arbeit der Erinnerung eine selbständige Bildgestaltung, die nun das Unbekannt-Gesetzliche in der Seele des Künstlers, die Rhythmik der reinen Form, die er in dem Bekannt-Gesetzlichen des Naturbildes angelegt fand, in einem anschaubaren Zeichen sichtbar macht. Das ist das Geheimnis: daß der Künstler nicht etwas erfunden, sondern etwas gefunden hat, etwas Ungeborenes, etwas was bisher in unbekannten Räumen lag und durch die Sensibilität eines Aufmerksamen nun anschaulich wird - und doch das unerklärliche Entzücken eines Wiedererkennens in uns hervorruft. Es ist der gleiche Vorgang des plötzlichen Findens - Wiederfindens - einer künstlerischen Gestalt in Dingen der Welt, den Marcel Proust am Erlebnis der Kirchtürme von Martinville so einmalig und eindringlich beschrieben hat und damit diesen Vorgang als einen geistigen in unser modernes Bewußtsein gehoben hat. Marcel Proust erlebte ihn in seiner hohen intellektuellen Spähre als geistigen Vorgang; Paul Klee erlebte ihn im Bereich des Bildnerischen. Das Genie Paul Klee ist außerordentlich komplex, aber durch ein ganzes Werk zieht sich wie ein roter Faden die Bemühung, die Dinge und Sensationen der Welt in bildnerische Gleichnisse zu verwandeln, in ihnen bildnerische Gestalten zu finden, die in der autonomen Sprache der Form die lyrische Bedeutung der Welt hermetisch einschließen. Die reifsten Leistungen fand Paul Klee nach seiner Ägyptenreise (1928). Die Bilder „Haupt- und Nebenwege“ und „Nekropolis“ - bildnerische Gleichnisse auf die uralte Landschaft Ägyptens und ihre Geschichte - sind die wundervollsten Ergebnisse. Als ich unsere Radierungen im Atelier von Batz sah, habe ich unmittelbar, trotz der äußeren Verschiedenheit, in ihnen die gleiche geistige Anschauung empfunden, die jene meisterlichen Werke Klees hervorgebracht hat. Ich sagte dies Batz, und er bestätigte mir, daß ihm der Entschluß Maler zu werden, gerade vor diesen beiden Bildern gekommen sei, als er sie 1929 auf der Künstlerbund-Ausstellung in Köln sah. Ich sagte dies nicht aus Kritikereitelkeit, sondern weil hierin ein Indiz gesehen werden kann, daß die oben entwickelte Einstellung zu den Blättern von Batz offenbar richtig ist, wenn sie aus einer bloßen Einsicht in die geistige Anschauung die äußerlich so anders aussehenden Quellen so eindeutig angeben kann. Batz, der die Kunstgewerbeschule in Elberfeld besuchte, ging nach dem Erlebnis der KIee‘schen Bilder 1929 an das Bauhaus nach Dessau und arbeitete bei Klee und Kandinsky; 1931 folgte er Klee als Meisterschüler an die Düsseldorfer Akademie, bis Klee 1933 entlassen wurde. Nach einem Studienaufenthalt in Frankreich ging er noch einmal - 1935 - für einige Monate zu Klee nach Bern. Sein künstlerisches Anliegen blieb immer, diese besondere Einsicht, die der ungeheuer weit gespannte Geist Klees andeutete und wieder verließ, festzuhalten und auszubauen, d. h. die in den „Haupt- und Nebenwegen“ Klees erworbenen Einsichten zum Ausgangspunkt der eigenen Arbeit zu machen. Aus diesem Grunde sind auch unsere radierten Blätter so wundervoll eingerastet in die Folgerichtigkeit des modernen bildnerischen Denkens, sie sind logische Fortsetzungen einer sich entwickelnden modernen bildnerischen Kontinuität. Fast möchte ich sagen, auch sie stehen am Anfang eines neuen modernen Stilstromes, der weder zur gegenständlichen, noch zur abstrakten Malerei gehört. Denn die Kameradschaft der geistigen Anschauung reicht bis zu Mataré, ja bis zu so ganz anders scheinenden Persönlichkeiten wie E. W. Nay. Es ist schwierig und doch so erwünscht, ein einleuchtendes Schlagwort für diese Kunstrichtung zu finden. Zwänge man mich dazu, so würde ich die Bezeichnung „Hermetische Malerei“ wählen - „pittura ermetica“ in Analogie zur „poetica ermetica“ der italienischen Dichter Montale und Ungharetti - weil ich damit gleichzeitig ein allgemeines europäisches Verhalten angeben würde, das mit dem 4. Jahrzehnt unseres Jahrhunderts die europäische Sensibilität allenthalben umzugestalten beginnt.